Nachwort zur 2. Ausgabe
Den
Begriff des Initiations-Romans suchen wir vergeblich im Handbuch der
Literaturwissenschaft. Diesen terminus technicus hat Bela Hamvas mit
Karneval ins Leben gerufen.
Geistige
Initiation - das heißt, es geht hier um Bewusstseinsbildung und die
sieben Bücher des Romans sind die sieben Stufen der schrittweisen
Anhebung des Niveaus.
Das
1.Buch ist die Schwelle. Wer kommt über die Schwelle? Derjenige, der
mit dem Mythos des Höhergestelltseins abgerechnet hat und sich darüber
im Klaren ist, dass “wir alle
in der Patsche sitzen.”
Nur
kein Pathos, kein Weihrauch, wenn ich ausspreche: Ich - sagt Hamvas.
Erst dann ist es möglich, die Schwelle zu betreten und im maskierten
Strudel des Lebens die eigenen Masken
zu erkennen: Ich bin jede Maske! Und
die Häutung der Masken ist eine ziemlich schmerzhafte Angelegenheit.
Dieser Mensch verfügt über ausreichend Geduld und nicht weniger gesunden
Humor, um bei der
Durchführung der Operation nie seine
Geistesgegenwart zu verlieren .
Der
heraklitische Schlüsselsatz zu dieser verschlungenen und beim ersten
Lesen kaum überschaubaren Ereignisreihe ist: Ich begann mich zu suchen.
Die Hilfe ist der Engel,
weil den Ich-Suchenden immer ein
Seelenführer erscheint . “Der Engel erscheint jedem mindestens einmal im
Leben” , lesen wir im ersten Buch. Er ist nur wegen uns da und wir
verstehen kein Wort.
Das
2. Buch ist die Metamorphose. Das samsarische Zyklus wendet sich um
hundertachzig Grad. Schwarz und Weiss tauschen die Plätze, jeder legt
eine neue Maske an und
“niemand ist mehr der Alte”. Während
der real-irreale Geschichtsfaden in Regenbogenfarben weiterläuft, wird
auch der die Schwelle übertretende Held, Mischichen geboren und wird,
getreu den alkimistischen Regeln des 2. Buches, schon im Eröffnungsbild
seines Lebens, im Kreisssaal nämlich, mit einem anderen Neugeborenen
vertauscht. Das Durcheinander erscheint hoffnungslos und endgültig
unlösbar, die Welt steht eben auf dem Kopf und an diesem Punkt müssen
die weniger entschlossenen Lesern sich eingestehen: ich kann nicht mehr.
Das
3. Buch: die Vertiefung. Das alkimistische Descensio. Mischichen
jetzt in der Maske des Retters. Er
heiratet, zeugt Kinder und nachdem er alle faulenden, wankenden Stufen
des Krieges und des familiären Purgatoriums erklommen hatte, erreicht er
die Schwelle des Todes vom kleinen Ich: seine Larven (Schicksalrollen)
fransen sich aus. “Austrocknen der Seele” nennen es die Mystiker.
Im
4. Buch wird “in zwei gerissen” und “ gegenübergestellt”. Das ist die
separatio und multiplicatio, die Operation der Absonderung und der
Vervielfältigung.
Metaphysische Bewusstseinsspaltung.
Hamvas’ Held, Mihaly Bormester knetet aus seinen Charakter-Komponenten
zwei Wesen: Mike und Michail - den Jongleur der entwickelten
Lebenstechnik mit blendendem
Humor und den leidenden, nach Reinigung
durstenden Moralisten. Während das vierte Buch das Buch der
Inbesitznahme der irdischen Gefilde ist, gehört das 5. Buch der Zeit.
Nach
reductio und fixatio - Zurückführung
und Vereinigung - kehrt Bormester zur Karma-Krise des dritten Bandes
(zum Hauptfaden der Geschichte) zurück und begeht die schlimmste Sünde,
die ein Mensch begehen kann: er tötet. Etwas milder ausgedrückt: im
Laufe eines Familienstreits erwürgt er seine Frau.
Ein
durch Schuld weich gewordener Mann! - spricht ihn sein Seelenführer
an, Meister Mark, der den ihm anvertrauten Schüler nun für
reif genug hält, um ihn durch die
tausende Jahre lange Kette der Inkarnationen in die Vergangenheit zu
führen. Anschliessend durchschreiten nochmals hunderte und aber hunderte
Figuren die Bühne, die Magie der Namen scheint unerschöpflich und es
geschieht alles mit jedem jetzt. Fasziniert und gefesselt von ihren
Schicksalsrollen wünschen die Masken kein Erwachen.
Da
bleibt nur noch die metaphysische Dimension. Dieses Kapitel
charakterisiert Katalin Kemeny in ihrer Monografie über Karneval so: das
ist anabasis und katabasis - ein gewagtes
alkemisches Abenteuer von Himmel- und
Höllenfahrt, eine Gegend, in die sich die europäische Literatur seit
Dante kaum wagt. Das ist die volatilisatio: die Seele vom Himmel und von
der Unterwelt beflügelt. Die
anfängliche Frage: “Wer bin ich?” - kann
jetzt klarer beantwortet werden. Die Natur der Seele ist das Feuer.
Meister Mihaly kennt jetzt seinen nächsten (aber nicht letzten!) Namen:
das Feuerkind mit
zehntausend Häuten.
Das
6. Buch steht im Zeichen
von calcinatio und coagulatio. Das ist
der Moment des Ausbrennens und der Schaffung der festen und endgültigen
Lage. Der Rückkehr zur Wirklichkeit. Aber was ist die Wirklichkeit? Die
Wirklichkeit ist 1945 und die Schlacht um Budapest. Bormesters
Schicksalsdrama endet hier, im Luftschutzbunker.
Das
7. Buch: über einen neuen Lebenskreis kehrt der Beginn wieder. Das ist
die sublimatio. Neue Larven und neue Masken werden geboren, aber ein
Mann namens Vidal tritt auf. Sein
Name bedeutet: der sieht. Der die Masken
abnehmen kann. Chaos bleibt Chaos, er kann die Ordnung auch nicht
herstellen, aber er sieht den Pfad der herausführt.
Die
erste Fassung vom Karneval entwarf Hamvas mit einunddreissig Jahren,
doch er war mit dem Ergebnis unzufrieden. “Diesen Roman werde ich mit
fünfzig schreiben!”
sagte er jahrelang. Und tatsächlich:
als er 1948 mit 51 Jahren auf die Schwarze Liste kam,
zwangspensioniert, von jeder Möglichkeit der Publikation ausgeschlossen,
war seine Lage ausgesprochen ideal, um den Schicksals-Katalog von den
wundersamen Verwandlungen der Seele auf 1200 Seiten zu erstellen. Die
erste abgetippte Abschrift des Romans versteckte er sorgfältig im
Bettkasten unter der Wäsche. Das Schicksal des Romans nach seinem Tod
1968 erwies sich als eine kongeniale Fortsetzung dieser ganzen
farbigen, karnevalistischen (Selbsterkenntnis-) Komödie. Er
verbreitete sich als Samisdat im intellektuellen Untergrund Ungarns. Da
es sich dabei um ein überwältigendes Blätter-Volumen handelte, bekam
kaum jemand das Ganze zu Gesicht. Das Buch wurde in Teilen, auch
zusammenhangslos, weitergereicht; jeder fertigte Kopien an und gab sie
weiter. So entstand ein Mythos von einem Roman, den kaum einer ganz
gelesen hat, aber von dem sich viele angesprochen fühlten. Drei
Jahrzehnte später, 1985 wurde das Buch von einem Politfunktionär, der
aufgrund seiner Stellung wohl der einzige war, der eine Herausgabe
verantworten konnte, zum Verlag gebracht. Er liess eine unerhebliche
Passage über den Arbeitswettbewerb weiblicher Henker streichen und hatte
damit der Zensur genüge getan.
Nach
seinem Erscheinen war die Auflage von zehntausend Exemplaren nach
einigen Tagen vergriffen. Doch anscheinend sind nur Wenige im der Lage,
dieses Buch, das auch
Hamvas als sein Hauptwerk ansah,
tatsächlich zu lesen. Es gelang ihm dafür zu sorgen, dass die Schwellen
der ersten Bücher nur von den Entschlossensten übertreten werden können.
Die persönliche
Erfahrung des Verfassers dieser Zeilen
hat gezeigt, dass es von grossem Vorteil ist, wenn man es sich leisten
kann, das Buch gleich zweimal hintereinander zu lesen. Auf diese Weise
lernt man zunächst die hasarde, mit Tragödien und Humor durchsetzte Welt
der Schicksalsgestalten kennen. Beim zweitenmal aber erkennt man die
unter dem Gewebe der Geschichte verborgene Welt der alles
durchdringenden Ordnung und des Sinns. (Bormesters Bemerkung zu weiteren
Möglichkeiten: das Buch gar nicht zu lesen, dreimal lesen,
hineinzublättern. Zum letzteren fügt er hinzu : Irritation maximum).
Initiations-Roman? Vielleicht bedeutet es nur so viel: wir sehen, wie der Strudel von anank (der Schicksalszwang) mit uns stürzt, rast und sich dreht - aber die Achse bewegt sich nicht.
Ein
halbes Jahrhundert trennt uns von der Zeit der Entstehung des Romans.
Eben der Zeitraum, den Hamvas “kleine Ewigkeit”
nennt, da auch anspruchvollere geistige
Werke dieses Alter nur selten überleben. Die Welt hier in Ost-Europa
hat sich erdrutschartig verändert (getreu den Regeln des Drehbuchs im
zweiten Buch), dem Karneval kann diese Verschiebung der Konstellation
nichts mehr anhaben. Wie jedes Meisterwerk wurzelt es in der Tiefe des
Zeitlosen. Seine Frische, seine erweckende Kraft wird von der
vergehenden Zeit eher gestärkt denn geschwächt.